Laudatio VBKI-Preis BERLINER GALERIEN 2022 Marcus Woeller

20.09.2022

Liebe Gäste,

Juryarbeit kann man sich als sehr schön vorstellen. Unter Palmen. Am Strand. Am Lido. Im Kino. Vergangene Woche bei den Internationalen Filmfestspielen in Venedig hat die Jury mit der Verleihung des Hauptpreises an die Filmemacherin Laura Poitras nicht nur die Cineasten überrascht, sondern auch die Kunstöffentlichkeit begeistert. Der Film porträtiert die Künstlerin Nan Goldin. Die hat ihr Leben bekanntlich dem Kampf gegen das Pharmaunternehmen der Familie Sackler gewidmet, die sie für die Opioid-Krise in den USA verantwortlich macht. Goldin war selbst jahrelang Oxycontin-abhängig, während die Sacklers sich als Kunstmäzene einen Namen machten. Ihr Name verschwindet nun wieder aus den Museen. Das ist auch Nan Goldins Verdienst. Von Jurypräsidentin Julianne Moore darf man annehmen, dass es ihr gefallen hat, den Goldenen Löwen von Venedig an eine Aktivistin zu verleihen.

Aber ich schweife ab. Juryarbeit muss man sich also als sehr schön vorstellen. Auch in Berlin. Wenn auch nicht auf der Berlinale, dann doch in der Kunstszene. Unter Linden. Im Kiez. In Hinterhöfen. In Galerien. Der Goldene Bär des hauptstädtischen Kunsthandels heißt nüchtern VBKI-Preis Berliner Galerien. Und so bedeutete die Juryarbeit erst einmal: Akten fressen in einem Besprechungsraum in der Kalckreuthstraße. Weil unsere Jurypräsidentin Nana Poll krank entschuldigt war, übernahm Andreas Herrmann als ihr Co-Vorstand vom Landesverband der Berliner Galerien. Beiden danke ich herzlich für die ganze Organisation. Alles war vorbereitet: Mineralwasser, Kaffee, belegte Brötchen, Klemmbrett, Stift und ein Stoß von Dokumentenordnern, die es zu sichten galt, um die diesjährigen Gewinnerinnen und Gewinner zu küren.

14 Galerien – überraschenderweise nur 14 – hatten ihre Bewerbungen eingereicht. Und weil der Preis eine Initiative des Vereins Berliner Kaufleute und Industrieller in Zusammenarbeit mit dem Landesverband Berliner Galerien ist, gehörte ein Dokument zwingend in die mehr oder weniger dicken Bewerbungsmappen: der Auszug aus dem Berliner Handelsregister. Ich vermute von uns vier Jurorinnen und Juroren, neben mir die Kuratorin Birgit Möckel und der Galerist und Vorjahrespreisträger Alexander Levy, hat nur Klaus Siegers, der Vorstandsvorsitzende der Weberbank und damit unser Gastgeber heute, diese Handelsregisterauszüge eines kompetenten Blickes gewürdigt.

Dabei sind es doch die entscheidenden Dokumente. Sie bezeugen, dass hier kommerziell arbeitende Wirtschaftsunternehmen ausgezeichnet werden und keine Kunstvereine oder öffentlich geförderten Projekträume. Dieses Engagement für Galeristinnen und Galeristen macht den VBKI-Preis so besonders. Dankenswerterweise waren die Handelsregisterauszüge aber ganz nach hinten in die Mappen sortiert, denn interessant war dann doch etwas anderes: Mit welcher Ausstellung bewerben sich die Galerien? Welche künstlerische Position wollen die Galeristinnen und Galeristen vermitteln? Wie stellen die Kunsthändlerinnen und Kunsthändler ihr Unternehmen vor?

Und da war so ziemlich alles dabei: Tabellarische Lebensläufe. Wortreiche Programmerklärungen. Knappe Zusammenfassungen der Galeriearbeit.

Schwarz-weiß-Kopien. Viel Din-A-4 in Klarsichthüllen. Bunte Aktendullis. Ambitionierteste Papierklammern. Hochglanzfotos. C-Prints auf gestrichenem 200-Gramm-Karton. Eine Galerie hatte den gesamten Output an Werbematerial für die Ausstellungen der letzten Jahre eingetütet.

Andere kamen auf den Punkt. „Die individuelle Durchsicht der Bewerbungen“, hält Anne Frechen, der ich auch danken möchte, in ihrem Protokoll fest, „beginnt um 11:35 Uhr und endet um 13:50 Uhr.“ Pause.

Dann begann die Diskussion, der spannende Teil der Jurysitzung, und die Jurorinnen und Juroren plädierten für ihre individuellen Favoriten.

Und wie es manchmal so ist in Diskussionen, war man sich recht bald einig. Drei Gewinner wurden auf der Shortlist eingetragen. Gewinner deshalb, weil von den drei Nominierten keine Galerie leer ausgeht. Den Galerien Soy Capitán, Thomas Fischer und Office Impart kann man also schon einmal gratulieren.

Nun aber endlich zum schönsten Teil der Juryarbeit, den Besuch der Ausstellungen und die Beurteilung der unterschiedlichen Präsentationen. Früher, als der Kunstboom im Nachwende-Berlin losging, machte man das regelmäßig, wenn Galerienrundgang im Scheunenviertel und gefühlt in jedem Haus eine Galerie war. Mittlerweile ist das logistisch schon gar nicht mehr möglich, weil sich die Galerien über die gesamte Innenstadt und sogar darüber hinaus verteilt haben. Selbst in der Terra Incognita von Moabit oder Weißensee gibt es inzwischen Galerien, die schon den VBKI-Preis gewonnen haben. Umso schöner also, wenn es einen Shuttle gibt, der die Jury kreuz und quer durch Berlin chauffiert.

Kreuzberg, Prinzessinnenstraße, ein industrieller Hinterhof unweit vom Oranienplatz. Ein paar Stufen geht es rauf über eine Laderampe hinein in die Galerie Soy Capitán. Der Name ist Programm, denn mit ihrer Galerie hat sich Heike Tosun eine Arche geschaffen, deren Steuerfrau sie ist. Starke Frauenpersönlichkeiten zögen sie an, hat die Galeristin einmal gesagt, und das stellt sie in ihrem Programm unter Beweis. Mit Eli Cortiñas, Grace Weaver oder Klara Hobza hat Heike Tosun einige innovative Künstlerinnen im Boot. Zur Berlin Art Week hat sie den Mut eine Newcomerin zu zeigen.

Mit der britischen Künstlerin Caroline Wong geht es gewissermaßen an den Kapitänstisch. Denn auf den Bildern geht es ums Essen, um das große Fressen, um die libidinös unkontrollierte Nahrungsaufnahme. In delikat gezeichneten Pastellkreiden sehen wir junge Frauen, die sich der Völlerei hingeben. Mit allen Konsequenzen. In ihrem naturalistischen Gestus und ihrem lebensweltlichen Thema wirken die Bilder anziehend und verstörend zugleich. Sie interessiere sich für Fragen der weiblichen Identität, erzählt die Galeristin und man spürt, dass die Grundlage ihrer Arbeit ihr empathisches Einfühlungsvermögen für Künstlerinnen und Künstler ist.

Ortswechsel: Waldenserstraße, noch ein Gewerbehof, diesmal in Moabit. Wo früher die Pferde der Straßenbahn ihre Ställe hatten, haben Anne Schwanz und Johanna Neuschäffer ihre Galerie bezogen. Hinter Backsteinwänden und großen Sprossenfenstern fällt der Blick auf eine große Küche, dann erst auf Graffiti an den Wänden, auf ein bedrucktes Tuch, das von der Decke hängt, auf ein Video auf einem Monitor.

Office Impart haben die beiden Galeristinnen ihr Unternehmen genannt. Das klingt ein wenig nach Agentur, nach Projektbüro, nach akademischem Thinktank. Aber sie sind ja auch dabei den Galeriebegriff völlig zu verändern, zu digitalisieren, dem medialen Wandel anzupassen, auch den neuen Bedürfnissen von Künstlern und Künstlerinnen, Sammlerinnen und Sammlern und dem Publikum.

Unter den Shortlist-Kandidaten sind sie die Aktivistinnen. Vermittlung ist alles, und noch viel mehr. Man denkt an den Film „Lost in Translation“, wo Bill Murray vor fast 20 Jahren durch ein ihm unverständliches und alle Sinne überwältigendes Tokio trottet und der schlaflosen und ebenso desorientierten Scarlett Johansson erliegt. Ähnlich verloren kann man sich in der zeitgenössischen Kunst fühlen. Sie existiert in analogen und virtuellen Räumen gleichzeitig, sie flottiert frei in Kollektiven und Netzwerken, in der Datenwolke. So vermittlungsbedürftig ist auch die Ausstellung „The Balkanization of the Cloud“ von Anna Ehrenstein, die sich satirisch und auf vielen inhaltlichen Ebenen mit politischen Fragmentierungsprozessen auseinandersetzt.

Anne Schwanz und Johanna Neuschäffer sehen ihre Aufgabe als Galeristinnen darin, ihr Wissen zu teilen, um über Kunst sprechen zu können. Und weil ein physischer Galerieraum dafür viel zu wenig ist, ist ihr Office Impart in den sozialen Medien aktiv, organisiert Diskussionsfestivals und lehrt das Leben mit Kunst in Online-Workshops.

Letzter Ortswechsel: In einem Ladenlokal in Berlin-Mitte findet man die Galerie Thomas Fischer. Während die High-Street-Shopping-Touristen über die Alte Schönhauser und die Rosenthaler Straße walzen, ist die sie verbindende Mulackstraße ein ruhiges Kiez-Biotop. Zwei Stufen geht es aufwärts in den kleinen, aber perfekt proportionierten Raum, wie Thomas Fischer ihn beschreibt. Zwei Jahre lang hatte er gar keine Galerieräume, dem ehemaligen Tagesspiegel-Hof an der Potsdamer Straße kehrte er noch vor der Corona-Pandemie den Rücken als dort die Mieten explodierten. Ausstellungen machte er trotzdem, er kooperierte mit anderen Galerien und war sogar einmal bei Heike Tosun in Kreuzberg zu Gast.

Seit einem Jahr nun hängt über der Eingangstür ein runder Leuchtkasten, auf dem die Buchstaben T und F tanzen. An den Wänden hängen in strengen Abständen Fotografien von „Inseln ohne Namen“, wie es im französischen Ausstellungstitel heißt. Eigentlich sind es nur Felsen im Meer vor der Küste der Bretagne, korrigiert Fischer sich sozusagen selbst. Oder sind es Skulpturen, die noch vor ihrer Entdeckung stehen?

Genauigkeit und Geheimnis machen den Charakter der Galerie aus und dazu passt, dass sich Thomas Fischer mit der Ausstellung eines Künstlers beworben hat, den er schon seit der Gründung der Galerie im Programm hat: Sebastian Stumpf, Konzeptkünstler und Fotograf.

Die neue Serie erinnert zunächst an Typologien von Bernd und Hilla Becher, auch muss man an die Seestücke von Hiroshi Sugimoto denken. Dann aber fragt man sich, wie hat Stumpf das eigentlich fotografiert und warum kann man sich dazu die Tonaufnahme eines schwer atmenden Radfahrers anhören? Wenn Thomas Fischer die Bilder erklärt, dann ist er inseinem Element. Er ist ein kunsthistorisch sicher grundierter, anschaulich beschreibender, dabei lakonischer Erzähler, der nicht mehr Worte um die Kunst macht, als sie braucht, um sich von der Wand zu lösen und sich in der Wahrnehmung der Betrachter und Betrachterinnen zu entfalten.



Mit der Professorin für Kunstkritik und Kunstgeschichte der Moderne an der Hochschule für bildende Kunst in Hamburg, Astrid Mania, hat Thomas Fischer ein Buch über den Theoretiker Brian O‘Doherty gemacht, der den nicht nur für Kunsthändler einst bahnbrechenden Essay „Inside the White Cube“ geschrieben hat, sondern in wechselnden Identitäten auch als Künstler aktiv und im Programm seiner Galerie ist. Mania hat mir erzählt, sie schätze an Thomas Fischer, dass er sich „nicht durch Moden oder Aufgeregtheiten beirren lässt. Seine Ausstellungen sind absolut präzise, er überlässt nichts dem Zufall, auch wenn das Ergebnis dann, so wie Fischer selbst, sehr entspannt wirkt.“ Sie sei daher fast geneigt, seine Arbeitsweise „als klassisch“ zu bezeichnen, und, so schickt sie hinterher, das sei als Kompliment gemeint. Ob das vielleicht ein bisschen zu klassisch sei, darüber haben wir auch in der Jury gestritten.Und darüber wie man Galeriearbeit heute definiert, wie man sein Publikum am besten erreicht.

Überzeugt hat uns dann das Gesamtpaket: die ausdauernde und geradezu

fürsorgliche Betreuung von Künstlern und ihrem Werk, die ausbalancierte Präsentation der Ausstellung, und die pointierte Vermittlung einer künstlerischen Position, die neugierig macht, mehr zu erfahren und den eigenen Blick an der Kunst zu schärfen.

Im Namen der Jury möchte ich herzlich gratulieren: Der VBKI-Preis Berliner Galerien 2022 geht an Thomas Fischer.

Marcus Woeller, 16. September 2022

 

Landesverband 
Berliner Galerien e.V.
Kalckreuthstraße 15
10777 Berlin
lvbg@berliner-galerien.de
T: +49.30.310197–14
F: +49.30.310197–15

Vorstand
Werner Tammen
(Vorsitzender)
Andreas Herrmann
(stellv. Vorsitzender)
Nana Poll

Ehrenpräsidenten
Georg Nothelfer †
Eva Poll
Michael J. Wewerka